Zgryźliwość kojarzy mi się z radością, która źle skończyła.
[26]
GEGENWORT
EINES
MITGLIEDES DER BERLINER GEMEINDE
WIDER DIE SCHRIFT DER
SIEBEN UND FUNFZIG BERLINER GEISTLICHEN:
DIE CHRISTLICHE SONNTAGSFEIER,
EIN WORT DER LIEBE AN UNSERE
GEMEINEN1
Liebe Brüder und Schwestern!
Es ist ein Wort der Liebe an uns gerichtet worden, dem wir unsere Ohren nicht verschließen dürfen. Am ersten Tage dieses Jahres2 wurde den Kirchengängern Berlins ein Schriftchen im Gotteshause überreicht, das den Titel führt: “Die christliche Sonntagsfeier. Ein Wort der Liebe an unsere Gemeinen,” und das uns Alle gar nahe angeht. Fassen wir den Inhalt desselben, bevor wir ihn später im Einzelnen beherzigen, in die wenigen bezeichnenden Worte der zweiten Seite zusammen: “Da es unleugbar ist, daß sich der Verfall der Kirche äußerlich am stärksten offenbart durch die Entweihung der kirchlichen Feiertage, und daß die Glieder anderer Religionsgemeinschaften an der Art, wie diese Tage unter uns begangen werden, den größten Anstoß nehmen u. s. w., so bieten wir unsern Gemeinen zunächst die folgende Schrift “über die christliche Sonntagsfeier” dar, nicht meinend, daß diese Angelegenheit die höchste sei im Wesen der christlichen Frömmigkeit, sondern weil wir glauben, daß für das Höchste, nämlich die christliche Wahrheit und Liebe, eine größere Empfänglichkeit und eine erweiterte Thätigkeit wird gewonnen sein, wenn die heiligen Tage ihrer ursprünglichen Bestimmung, [27] nämlich der Ruhe von der Arbeit, der ernsten Einkehr in sich selbst, der Aufmerksamkeit auf das göttliche Wort wiedergegeben werden.” So werden wir von sieben und funfzig unserer evangelischen Geistlichen, deren Namen am Schlusse unterzeichnet sind, unverhohlen mit dem “Verfall der Kirche” bekannt gemacht und eines unkirchlichen Sinnes und Treibens angeklagt. Wer es bis jetzt noch nicht hat glauben wollen, daß der Andächtigen immer weniger werden und die christlichen Kirchen immer leerer, der erfährt die unwiderlegliche Thatsache nun von Denen, welche ohne Zweifel die beste Auskunft darüber zu geben vermögen. Sie rufen uns zurück in die verlassenen Sitze, mit väterlicher Freundlichkeit die ungerathenen Kinder wieder zu sich winkend; wir aber haben die gebannten Räume der Kirche und die Grenzen andächtigen Glaubens unbewußt überschritten und werden erst jetzt durch den mahnenden Zuruf unserer unwillkührlichen Flucht gewahr. Laßt uns denn unseres jetzigen Zustandes recht inne werden und das inhaltsschwere Wort, daß “der Verfall der Kirche sich offenbare”, nach allen Seiten gründlich erwägen, ohne vor seinem Eingeständnisse zurückzubeben. Es nützet uns nichts so sehr, als Offenheit gegen uns selbst, und schadet uns nichts mehr, als wenn wir aus Angst eine unbestreitbare Thatsache vor uns selbst verbergen und von dem nichts wissen wollen, was wir doch nicht ableugnen oder ändern können. Sammelt, Ihr Lieben, dazu Euern Geist und vor Allem Euern Muth!
Die uns zur Umkehr ermuntern, die erinnern uns erst daran, daß wir wirklich schon über die alte Heimath hinaus und in der Fremde sind. Dank ihnen, daß sie uns über unsern Fortschritt, an dessen Wirklichkeit zu glauben wir uns noch nicht einmal getrauten, gründlich belehren. Sie rufen uns zu: Ihr seid nicht mehr kirchlich gesinnt! Wenn wir es denn nicht mehr sind (und lassen wir uns nicht durch Heuchelei und verzagte Aengstlichkeit bestimmen, [28] so können wir uns gar nicht mehr darüber täuschen, daß jene Beschuldigung uns in gewisser Beziehung vollkommen trifft), so fragen wir uns unwillkührlich selbst: Was bist du nun denn? Und bist du darum schlechter, weil du nicht mehr nach alter Art kirchlich bist?
Nun ja, der Vorwurf, in einer empfänglichen Stunde auf unser Gewissen geschleudert, hat wohl die Macht, uns augenblicklich in Schrecken zu setzen und eine Reue zu erzeugen, die für einige Zeit den guten Vorsatz, künftig die Kirche gewissenhaft zu besuchen, hervorruft. Aber wie lange dauert’s, so sind wir wieder die alten Sünder. So treibt uns denn die Reue zur Buße, und die Langeweile der Buße wieder zur Sünde. Beklagenswertes Loos Derer, die, mit ihrem eigenen Thun, obgleich sie darin nur dem Zuge der Zeit folgen, unzufrieden, sich doch nicht zu bessern vermögen. Sie haben die Kraft nicht, gegen den Strom der Zeit zu schwimmen, und haben den Muth und Freiheitssinn nicht, sich und ihr ruhiges Gewissen von seinen Fluthen tragen zu lassen. Sie möchten gerne fromme Christen sein, wenn es noch an der Zeit wäre, und möchten auch gerne mit der Zeit gehen und mit ihrer augenscheinlichen Gleichgültigkeit gegen das Christenthum oder vielleicht auch nur wider gewisse Aeußerlichkeiten desselben, wenn nur der alte Glaube und die alte Furcht nicht wäre. So aber schweben sie zwischen Himmel und Erde, zu schwer, um zu steigen, und zu leicht, um zu sinken: ein verzweifelter Zustand. Auf den Gewinn solcher Seelen ziehen denn die Seelsorger aus, und sie werden deren viele einfangen. Aber auch wir müssen retten.
Siehe dort, ein kältezitternd Reh
Flüchtet vor den Wölfen durch den Schnee!
Laß es ein, damit es kann erwarmen!
Was in aller Welt macht uns denn so kalt und gleichgültig, was fehlt uns denn? Eine Begeisterung fehlt uns, [29] die den ganzen Menschen durchglüht, die alle Zweifel des Gedankens und alle Verführungen der Sinne in ihrer reinen Flamme aufzehrt, die den Tod zur Auferstehung erklärt! Nach einer solchen Begeisterung sehnen wir uns!
Weiß man Euch etwa für die Kirche so zu begeistern? Regt die Predigt Eurer Geistlichen den Enthusiasmus in Euch auf, der freudig auf die Wahlstatt des Todes zieht, predigen sie Euch ein neues Evangelium, womit einst Luther die offenen Gemüther hinriß und die schlafsüchtige Welt aus ihrer Ermattung aufrüttelte? Oder bedarf etwa Euer Gemüth keiner neuen Offenbarung der Wahrheit? Seid Ihr, um nur an Eines zu erinnern, noch immer zufrieden mit jener fatalistischen Hingebung, die lieber schweigsam leidet, als sich Recht zu verschaffen nur versucht, und wird das Recht noch immer nicht höher von Euch geachtet? Wollt Ihr noch immer nur gehorsam sein auf Erden und frei erst im Himmel? Redet Euch das doch nicht ein; Ihr handelt vernünftiger als Ihr glaubt. Nur bleibt Ihr Euch in Eurem Handeln nicht beständig gleich, eben weil Ihr vom alten Glauben und seiner Angst noch vielfältig berückt werdet. Sonst aber pflegt Ihr keine Gewalt zu leiden, außer da, wo Ihr Euch fürchtet Euer Recht zu behaupten; leider aber fürchtet Ihr Euch gar oft und fallet von Eurem Rechte und damit von Gott ab, bloß weil Ihr es buchstäblich nehmet, daß man die andere Backe hinhalten solle, nachdem die eine geschlagen worden.3 Gut das, wenn Ihr Eure persönliche Kränkung verzeiht; Ihr veräußert aber auch aus demselben Grundsatze Eure unveräußerlichen Rechte und lasset Euch behandeln wie Kinder, wo Ihr das unvertilgbare Recht der Männer zu wahren hättet, laßt Euch bevormunden, wo es entehrendes Unrecht ist, nicht einen eigenen Mund und eigene Rede zu führen, seid kriechend, wo Ihr Eurem Manne stehen solltet, seid Maschinen, wo Ihr Geister sein solltet, die sich und andere befreien.
[30] Seid Ihr aber überhaupt noch so gleichgültig gegen das Reich dieser Welt und nur sehnsüchtig nach dem Himmel, wie Eure Seelsorger Euch gerne sehen möchten? Seid Ihr unempfindlich gegen die Dinge der Erde, um im Himmel desto mehr zu haben? Wollt Ihr von Euren Predigern nur hören, was Ihr hier alles aufgeben sollt, um dort die Fülle zu empfangen; wie Ihr Euch kasteien sollt und den Erdenfreuden entsagen, um im Himmel zu Gnaden angenommen zu werden? Seid Ihr mit Einem Worte nur zukünftige Bürger des Himmels und keine Bürger der Erde? Wenn Ihr aber auch das letztere seid, wollt Ihr dann nicht Belehrung darüber erhalten, was dem Erdenbürger gezieme? Steht ihm etwa nur die geduldige Sanftmuth gut an, oder soll er auch ein Mensch sein, der sich selbst fühlt und nicht gegängelt sein will, wenn er seinen Weg allein zu verfolgen weiß?
Laßt die Lehrer, die man Prediger nennt, Euch sagen dürfen, was des Menschen Werth ausmacht, ohne daß sie sich gebunden sehen, nur in althergebrachter Weise Euch vorzutragen, was den Christen ziert, und Ihr werdet ihre Kirchen mit Eifer und Freude besuchen. Der Grundsatz der Lehrfreiheit sei ausgesprochen, und jeder freie Lehrer wird willige und unermüdliche Zuhörer in Menge um sich versammeln! Seid Ihr nicht Menschen, ehe Ihr Christen seid, und bleibt Ihr nicht Menschen, auch nachdem Ihr Christen geworden? Warum wollt Ihr denn bloß wissen, worin des Christen Bestimmung und Beruf bestehe, warum nicht vor Allem erfahren, was des Menschen würdig ist? Weil Ihr meint, wenn Ihr nur Christen seiet, so seiet Ihr wahrhafte Menschen! Ich will Euch das zugeben, daß Ihr den wahrhaften Christen für so gleichbedeutend ansehen möget mit dem wahrhaften Menschen. Auch so bleibt es Eure einzige Aufgabe, nach dem wahrhaft Menschlichen zu fragen. Wie aber, wenn nun einmal das Christliche, wenigstens so wie es zur Zeit verstanden und als Lehre [31] geboten wird, nicht mit dem rein Menschlichen in Eins zusammenfällt? In wie weit dies gegenwärtig der Fall ist, darüber muß ich ja auch schweigen, da ich der Lehrfreiheit nicht genieße. Aber ich will Euch auf Luther verweisen. Was zu seiner Zeit für christlich galt, das war unmenschlich und schlecht. Nahm er sich nicht die Lehrfreiheit, die verbotene, dies Christliche in seiner Erbärmlichkeit aufzuzeigen? Er stellte sich und der Welt die Frage, was denn das rein Christliche sei. Ungehemmt forschte er darnach, und weil er das Biblische dafür erkannte, so predigte er’s ohne Scheu. Wie denn nun, wenn drei Jahrhunderte rastloser Forschung in den Tiefen der Gottheit uns darüber aufgeklärt hätten, es sei auch, was so Biblisch heißt, noch nicht das Wahrhafte? Sollen wir dabei beharren, auch wenn das Menschliche darunter litte? Sollen wir uns aufs Christliche verpflichten, selbst mit Aufopferung des Menschlichen? Sollen wir um jeden Preis und namentlich um diesen Preis Christen sein wollen? “Der wahre Christ, das ist der wahre Mensch!” Wohl denn, so lehret uns, was des wahren Menschen ist, so lernen wir wahre Christen sein. Wir wollen vom Christlichen nichts wissen, wenn es nicht das Menschliche ist. Lehret uns die Religion der Menschlichkeit! Müssen aber, diese Frage entsteht uns hierbei sogleich, müssen die Prediger dieser erhabensten Religion, gleich den heutigen Predigern der christlichen Confessionen, verpflichtet werden auf ein Symbol? Müssen sie in eine Vorschrift eingezwängt werden? Was hätten wir da gewonnen, wenn uns auch diese Religion um den freien Lehrer betröge? Nein, das Menschliche ist nicht Das, was Andere erkannt haben und ich ihnen glauben soll, sondern Das, was ich mit ganzer Seele erfasse und mein eigen nenne. Ich bin kein ganzer, kein voller Mensch, wenn ich Andern nur glaube, was sie mir von meinem eigenen innersten Wesen, von meinem Berufe und von dem Gotte, der in mir selbst wohnt,4 erzählen und ver- [32] sichern; ich bin es nur, wenn ich es selbst erkenne, wenn ich davon durchdrungen und überzeugt bin. Lasset nun den Lehrer mir gegenüber stehen und seine gewichtigen Worte an mich richten; ich werde ihnen folgen und, soweit sie mich überzeugen, sie zu meinem Eigenthum machen. Soweit sie mich aber nicht überzeugen, werden sie mir auch nicht ein Glaubensartikel sein. Ich werde mich von nichts abhängig machen, was ich nicht selbst bin oder wovon ich nicht bis ins Innerste durchdrungen bin. Ist nun der Prediger gehalten, mir Glaubensartikel einzuprägen, oder ist es sein Beruf, mich zu überzeugen, mich über mich selbst, über den Geist, der in mir wohnet und göttlichen Ursprunges ist, dessen ich mir nur bewußt zu werden brauche, zu belehren? Jener ist der Pfaffe, der gebieterisch meinen Glauben verlangt, dieser der Mitbruder und Mensch, der mich nur zu mir selbst führt, dessen gewiß, daß ich nie wieder von mir selbst lassen werde, wenn ich mich einmal gewonnen und inne habe. Nur der ist menschlich, der ganz in sich selbst ist, und der wahre Mensch wird dem ewigen Geiste, wird Gott selbst ähnlich zu werden stets trachten: Gott ist ja mein bestes Theil, mein innerstes Wesen, mein besseres oder vielmehr bestes und wahres Selbst.5 Gott ist der Mensch, das ist die Lehre Christi; wer sich selbst ganz besitzt, wer in das Heiligthum seines eigenen Wesens eingedrungen, wer bei sich ist, der ist beim Vater. So lehrt uns Christus, daß wir Christen sein sollen, und das ist seine wahre Wiederkunft, wenn in den Christen Christus lebendig worden ist; dann erscheint der Christus wieder auf Erden. Meint Ihr, das sei gotteslästerlich? O Nein; der Gott, den uns Christi Prophetenwort verkündet, der wiedergekommene Christus, wird damit gefeiert. Lasset Euch durch Eure Lehrer zu Euch selbst führen und entwöhnet sie der abgebrauchten Redensart, als ob sie Euch zu Gott führen wollten, und Ihr werdet sie mit Liebe hören. Allerdings führen sie Euch zu Gott, wenn sie Euch zu Euch selbst [33] führen, und der Ausdruck ist nicht falsch; aber welcher Mißbrauch wird damit getrieben, und wie werden die Gläubigen irre geführt! Gott ist, so lehren sie, außer Euch, eine andere Person, Ihr vermöchtet ihm nicht in Euch einen Tempel zu errichten. Es wäre ein Andres, wenn Ihr Euch am besten dientet und wenn ihm, einem fremden Herrn: ihm wolltet Ihr gefallen. Aus Knechten seid Ihr zu Kindern worden, aber freie und mündige Menschen seid Ihr nicht. Den finstern Herrn habt Ihr nur mit dem freundlichen Vater vertauscht, aber Geister, die sich selbst aus freiem Antriebe zu Dienern Gottes machen, das seid Ihr nicht. “Ihr sollt aber vollkommen sein, gleich wie Euer Vater im Himmel vollkommen ist.”6
Ihr meint immer noch eine Religion haben zu müssen neben Euren sonstigen Ueberzeugungen. Erkennet Euch, so erkennt Ihr Gott und die Welt, liebet Euch, so liebet Ihr Alle, suchet Euch, so sucht Ihr Gott,7 habt Euch, so habt Ihr Alles, trachtet im höhern Sinne zuerst nach Euch, so fällt Euch alles Andere zu. Nichts ist Euch so verborgen, als Ihr Euch selbst; nichts kann Euch aber auch so offenbar werden, als Euer Selbst: und auch darin offenbart sich Gott Eurem suchenden Geiste.
Und forschet nur in Euch nach, ob Ihr wirklich damit zufrieden seid, wenn Ihr von Euren Predigern stets an Gott gewiesen werdet, an den Gott, der nicht Euer eigenes Selbst ist. Könnt Ihr mit ihm jemals eins werden? Nur mit Euch könnt Ihr eins und einig werden, nicht mit einem Andern, der Euch immer, auch in der innigsten Verbindung noch fremd bleiben muß, ein Herr und Vater in unnahbarer Majestät. Schleudert die Demuth von Euch, die einen Herrn braucht, und seid Ihr selbst. Gesteht es Euch selbst, daß Ihr das wollt, habt nur den Muth, es Euch nicht länger zu verhehlen, fürchtet Euch nur nicht, zu denken, was Ihr unbewußt doch thut; denn Ihr seid längst nicht mehr gottesfürchtig nach alter Art, und Eure Geistlichen [34] sagen es Euch, daß Ihr den kirchlichen Sinn verloren habt. Ihr schlendert noch so in der alten Gewohnheit hin und meint gute Christen zu sein; nehmt aber das Wort Eurer Geistlichen Euch zu Herzen und lasset es nicht ungehört und unbeachtet verhallen: sie, die Eure berufenen Lehrer sind, verkündigen es Euch, daß Ihr schlechte Christen seid. Ja, kommt dadurch zur Erkenntniss und bekennet es frei: Wir sind keine Gläubigen mehr! Wir glauben nicht ernstlich mehr an den alten Herrgott, und wenn wir nur wüßten, wie ohne ihn die Welt hätte entstehen und bestehen können, so würden wir dieser ganzen unbegründeten Voraussetzung nicht mehr bedürfen. Und wenn Ihr mit diesem Selbstbekenntnisse die Last Eurer Selbsttäuschung abgeworfen und Euch wenigstens offen gesagt habt, wie es um Euch und Euren Glauben steht, so fordert für Eure Lehrer das freie Wort, die unveräußerliche Lehrfreiheit. Ihr werdet schwerlich verlieren, was Ihr noch länger besitzen möchtet, viel aber gewinnen, wovon Ihr in Eurer träumerischen Anhänglichkeit am Alten nie zu träumen wagtet.
Lasset uns nun das vorliegende “Wort der Liebe an unsere Gemeinen” ein wenig näher betrachten. Eure Seelsorger, “welchen das Amt des göttlichen Wortes anvertraut ist”, wollen ein Wort des Ernstes und der Liebe über die Feier unserer christlichen Sonn- und Festtage an Euch richten. Verweilen wir einen Augenblick bei diesem “anvertrauten Amte des göttlichen Wortes.” Bedeutet es das Amt, uns zu lehren Alles, was sie als wahr erkennen, fühlen und denken, uns sich selbst und die Wahrheiten zu offenbaren, welche sie im ernsten Bemühen um die ewige Wahrheit gefunden haben, oder ist es das Amt, die Bibel buchstäblich, treu und ohne Einmischung eines Urtheiles zu erklären, und das Bibelwort als das göttliche Wort zu verehren? Niemand unter Euch kann zweifeln, daß ein christlicher Prediger allein auf das letztere angewiesen ist. Aber auch nicht leicht wird Einer unter Euch anzutreffen [35] sein, dessen andächtiges Gefühl nicht schon von mancher Predigt aufs tiefste verletzt worden wäre, in welcher ein sklavischer “Diener am göttlichen Worte” durch alle möglichen Kunststücke des Scharfsinnes so lange am Bibelworte drehte und deutelte, bis ein leidlicher Sinn herauskam. O, es ist widerwärtig, dieses Deuteln an dem, was geschrieben steht, an dem nicht gerückt werden soll, bloß weil es geschrieben steht; daß der Seelsorger nur darum loben soll, nicht tadeln. Er “soll”, wie es im Schriftchen selbst heißt, “unseren Kindern das dritte Gebot einschärfen;” er soll! Seid Ihr, das fragt Euch selbst, seid Ihr damit zufrieden, daß man Euch sagt: So steht es geschrieben! – seid Ihr beruhigt über Eure Zweifel, sobald Ihr wisset, so und so laute die Bibel; gilt Euch etwas darum schon für wahr, weil Ihr’s im Testamente leset, und wollt Ihr nur die Schrift auslegen hören oder verlangt Ihr nach – der ewigen Wahrheit? Und wenn Ihr darnach verlangt, genügt Euch da ein “Diener des göttlichen Wortes”, der auf die BibeI geschworen hat, geschworen, Euch nur biblische Lehren beizubringen, geschworen, Euch seine abweichende Ansicht und seine Einwürfe zu verschweigen, – oder seht Ihr Euch nicht vielmehr nach einem freien Lehrer um? Es ist wahrlich erhebender und göttlicher, einen freien Menschen zu vernehmen, als anzuhören, wie ein Diener des Wortes seine pflichtschuldigen und diensteifrigen Lobgesänge anstimmt, und lieber lausche ich einem Sünder, der im Kampfe der Gedanken sich verirrt hat, als neunundneunzig solcher Gerechten.
Doch für jetzt müssen wir ihren Worten weiter mit Aufmerksamkeit folgen. Wir könnten uns durch den Beginn der Anrede geschmeichelt fühlen, weil uns gesagt wird, “ein bedeutender Theil der evangelischen Einwohner Berlins zeichne sich vor den Bewohnern anderer Ortschaften unseres Vaterlandes in der Begehung der Sonntagsfeier vorteilhaft aus,” wenn wir nicht die Richtigkeit der [36] Angabe sehr bezweifeln müßten und ohnehin der Jammerruf über die “leeren Kirchen” bald nachschallete. Zuvörderst jedoch heißt es in den Eingangsworten: “Es war eine gesegnete Frucht der schweren Drangsale, welche vor mehr als 30 Jahren unser Vaterland trafen, daß so viele Herzen dem Gott, der uns geschlagen hatte, sich zuwandten, damit er uns wieder heilen möchte.” Der Gott, der uns geschlagen hatte, das war unser besseres Selbst, das über den Rhein herüberkam und unsere mattherzige Selbstsucht zerbrach;8 und wir wendeten uns ihm auch wieder zu, anfangs freilich in taumelnder Frömmigkeit, endlich aber – und Das ist die gesegnete Frucht der 30 Jahre, ja die wahrhaft gesegnete! mit bewußtem, männlichem Muthe. – Jetzt erst, da wir ihn nicht mehr bloß in den Kirchen suchen, haben wir ihn noch mehr zu unserem Freunde gemacht.
Weiter wird uns gesagt: “Darüber sind ohne Zweifel alle ernste, gewissenhafte Bewohner unserer Stadt und unseres Vaterlandes mit uns einverstanden: ein Volk, das die Gottesfurcht verläßt, und von dem Höchsten und Heiligsten, was es für die Menschen giebt, sich entfremdet, das ist auf dem Wege, auch die irdischen Segnungen wieder zu verlieren, deren es sich noch zu erfreuen hat.” Wir, meine Lieben, sind ohne Zweifel auch ernste, gewissenhafte Leute, und viele auch Bewohner dieser Stadt und dieses Vaterlandes; allein sind wir damit einverstanden, daß die Gottesfurcht das Höchste und Heiligste sei? Fürchten mag sich, wer vor einem Furchtbaren im Staube kriecht; fürchten vor einem Mächtigen, wer nicht alle Macht über sich in sich selbst hat;9 wir fürchten uns so wenig als unsere Altvordern, von denen schon ein wackerer Römer sagte, daß sie sich gegen Götter und Menschen sicher wußten.10 Als Christen sollten wir schon gelernt haben, Gott nicht zu fürchten, sondern zu lieben. Allein sie wollen ja, daß er throne bloß außer und über uns, mit aller Macht und Majestät bekleidet, vor der ein ergebenes, nach Gnade [37] dürstendes Gemüth immer auf den Knien anbetet und nicht durch Handlungen, wie sie Menschen ziemen; einen Herrscher und Herrn nicht zu fürchten, das heißt wohl das Unmögliche begehren. Aber sie thun recht, daß sie ihn fürchten, die Gottesfürchtigen! In ihm lebt doch ihr eigener Geist schon hier, wenn er ein reiner ist, obwohl sie ihn noch, verborgen wie er ihnen ist, im Jenseits suchen; bis sie zu sich kommen, können sie ihn nur fürchten und lieben. Darum mögen wir ihnen auch zugeben, daß Alle, die ihr bestes Theil als Gott ins Jenseits geworfen, in “kurzsüchtige Selbstsucht” verfallen, sobald sie die Gottesfurcht ablegen. Zu fürchten darf ja nur Der aufhören, der den Allmächtigen nicht mehr außer sich, sondern in sich hat.11 Ja, wir bestreiten ihnen selbst nicht, daß mit der Gottesfurcht auch die Ehrfurcht vergeht und “an die Stelle des Gehorsams gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit und ihre heilsamen Ordnungen, an die Stelle der milden und ernsten Zucht und Sitte des Hauses und der Familie eine zügellose Willkühr, eine stete Auflehnung gegen die Schranken, die jeden in seinem Berufe umgeben, Unzufriedenheit, Mißmuth und Murren über sein Schicksal tritt;” wir bestreiten diess ihnen um so weniger, als zwar die auf den Bibelbuchstaben vereidigten “Diener am göttlichen Worte” die Erlaubniss haben, solches zu reden, wir aber, die wir reden möchten, wie’s uns ums Herz ist und wie’s allen ums Herz sein sollte, nur das Gebot – zu schweigen. Wahr aber ist es allerdings, daß die Selbstsucht in dem Maße steigt, als die Gottesfurcht sinkt; denn es berühren sich ja allezeit die Extreme und lösen einander ab, weil sie, obzwar feindliche Brüder, doch eben desshalb die nächsten Verwandten sind.
Wir kommen nun an die Schilderung unserer Gottverlassenheit und müssen sie wörtlich mittheilen als deutlichen Beweis dafür, wie klärlich unsere Geistlichen den Verfall der Kirche einsehen. “Wir bemerken mit Schmerz, [38] wie so Viele des großen Segens sich selbst berauben, den die wahre Ruhe, die Ruhe von irdischen Mühen und Sorgen, die Erhebung der Seele zu Gott an einem bestimmten, von Gott dazu festgesetzten Tage, uns gewährt. Ohne einzelnen Ständen hier besonders nahe treten zu wollen, lasset uns nur daran denken, wie die Reicheren und Vornehmeren ihre oft bis an den Sonntagmorgen dauernden Vergnügungen jetzt vorzugsweise auf den Abend des Sonnabends verlegen und sich dadurch für jede ernste, heilige Beschäftigung am Sonntag Vormittag unfähig machen; wie so viele Beamte einen Theil ihrer Geschäfte besonders gern am Sonntag Vormittag besorgen; wie so viele Gewerbtreibende und Handwerker öffentlich und in ihren Werkstätten den halben Sonntag wenigstens arbeiten und erst am Nachmittage ruhen, wie man in allen Berufs- und Erwerbszweigen gern wenigstens Nebenarbeiten am Sonntage abmacht; wie das Kaufen und Verkaufen am Sonntage zu allen Stunden fortgeht, außer wo die Obrigkeit es strenge ahndet. Welch ein trauriges Beispiel giebt Berlin hierin den nächsten Dörfern und kleinen Städten, deren Einwohner, weil sie wissen, daß man hier ungescheut am Sonntage Handel und Verkehr aller Art treibt, gerade an diesem Tage früh Morgens so zahlreich der Hauptstadt zuströmen, während die Gotteshäuser in den umliegenden Ortschaften leer stehen! Welch ein Aergerniss geben unsere Christen den Juden in unserer Mitte, die, so lange noch eine Spur von Gottesfurcht in ihnen ist, ihren Sabbath nie auf solche Weise entheiligen! Und welch ein tiefer Schmerz ist es besonders uns, Euren Seelsorgern, denen Ihr Eure Kinder zur Confirmation anvertraut, wenn wir diesen im Unterrichte das dritte Gebot einschärfen sollen, zu dessen Uebertretung so häufig das Beispiel der eigenen Etern12 und der nä...